Heute möchte ich diese Anekdote von Heinrich Böll vorstellen.
Ich möchte damit anregen, diverse allgemeine Narrative oder Lebensmuster zu überprüfen.
Ich selbst bin erst vor kurzem drauf gestoßen und fand diese unheimlich passend auf unsere Lebenssituation, wo wir doch alle mehr arbeiten als früher. Es passt ein wenig auch zu dem landläufigen Narrativ des Hamsterrades, wo viele einen Ausweg raus suchen. Und sie passt sehr gut zu meinem Ansatz "ToLife-Coaching".
In allen Bereichen der Beratung lässt sich diese Anekdote psychologisch wertvoll einsetzen.
Ob im Coaching, der Burnout- oder auch der Psychologischen Beratung lassen sich aus dieser Geschichte hilfreiche Erkenntnisse ableiten.
Generell sind es die Geschichten, das sog. Story-Telling, die häufiger mehr bewegen als die rationalen Erklärungen diverser Modelle oder Formate.
Wie die meisten Anekdoten ist diese humorvoll, aber auch kritisch hinsichtlich der allgemeinen Narrative von "immer schneller, immer höher" oder "grenzenloses Wachstum"
Als Italiener, der beide Kulturen, speziell die süditalienische, kennengelernt hat, betrachte ich diese mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Oft durfte ich erleben, wie im Süden mit deutlich weniger Wohlstand doch mehr gelebt wird. Die Menschen sind zwar auch unzufrieden mit vielen Lebensumständen, nutzen aber ihre Möglichkeiten auf deutlich niedrigerem Niveau. Es wird trotz viel Arbeit viel unternommen. Sei es in Form von privaten Zusammenkünften, Feierlichkeiten oder auch einfach das berühmte Chillen.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen und auch die ein oder andere erleichternde Erkenntnis.
Heinrich Böll - Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral
In einem Hafen an einer westlichen Küste Europas liegt ein ärmlich gekleideter Mann in seinem Fischerboot und döst. Ein schick angezogener Tourist legt eben einen neuen Farbfilm in seinen Fotoapparat, um das idyllische Bild zu fotografieren: Blauer Himmel, grüne See, schwarzes Boot, rote Fischermütze. Klick. Noch einmal: klick.
Das Geräusch weckt den dösenden Fischer, der nach seiner Zigarettenschachtel angelt. Schnell bietet ihm der eifrige Tourist schon eine Zigarette an und beginnt ein Gespräch in der Landessprache:
"Sie werden heute einen guten Fang machen."
Kopfschütteln des Fischers.
"Aber man hat mir gesagt, daß das Wetter günstig ist."
Kopfnicken des Fischers.
"Sie werden also nicht ausfahren?"
Kopfschütteln des Fischers, steigende Nervosität des Touristen, der traurig an die verpaßte Gelegenheit denkt.
"Oh, Sie fühlen sich nicht wohl?" Endlich geht der Fischer von der Zeichensprache zum gesprochenen Wort über.
"Ich fühle mich großartig", sagt er. "Ich habe mich nie besser gefühlt.
Der Gesichtsausdruck des Touristen wird immer unglücklicher, er kann die Frage nicht mehr unterdrücken: "Aber warum fahren Sie dann nicht aus?" Die Antwort kommt prompt und knapp.
"Weil ich heute morgen schon ausgefahren bin."
"War der Fang gut?"
"Er war so gut, daß ich nicht noch einmal auszufahren brauche, ich habe vier Hummer in meinen Körben gehabt, fast zwei Dutzend Makrelen gefangen..." Der Fischer, endlich erwacht, klopft dem Touristen beruhigend auf die Schultern. "Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug", sagt er, um des Fremden Seele zu erleichtern. "Rauchen Sie eine von meinen?"
"Ja, danke. Ich will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten mischen", sagt er, "aber stellen Sie sich mal vor, Sie führen heute ein zweites, ein drittes, vielleicht sogar ein viertes Mal aus und Sie würden drei, vier, fünf, vielleicht sogar zehn Dutzend Makrelen fangen... stellen Sie sich das mal vor."
Der Fischer nickt.
"Sie würden", fährt der Tourist fort, "nicht nur heute, sondern an jedem günstigen Tag zwei-, dreimal ausfahren - wissen Sie, was geschehen würde?"
Der Fischer schüttelt den Kopf.
"Sie würden sich in spätestens einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren vielleicht einen kleinen Kutter haben, dann würden Sie natürlich viel mehr fangen - eines Tages würden Sie zwei Kutter haben, Sie würden...", die Begeisterung verschlägt ihm für ein paar Augenblicke die Stimme, "Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine Marinadenfabrik. Sie könnten ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris exportieren - und dann...", wieder verschlägt die Begeisterung dem Fremden die Sprache
"Und dann!" Der Fischer klopft ihm auf den Rücken, wie einem Kind, das sich verschluckt hat. "Was dann?" fragt er leise.
"Dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen - und auf das herrliche Meer blicken."
"Aber das tu ich ja schon jetzt", sagt der Fischer, "ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört."